Der Zusammenhang von Androgendeprivationstherapie und Morbus Alzheimer – Ergebnisse einer “Big Data”-Analyse

PD Dr. med. Jan Lehmann

Facharzt für Urologie
Zusatzbezeichnung: Medikamentöse Tumortherapie, Andrologie, Fachgebundene Röntgendiagnostik

Urologische Gemeinschaftspraxis
am Prüner Gang
Prüner Gang 15
24103 Kiel

Einleitung

Es wird geschätzt, dass allein in den USA derzeit eine halbe Million Männer eine Androgendeprivationstherapie (ADT) zur Behandlung eines Prostatakarzinoms erhalten.

Der Zusammenhang zwischen einer ADT und Entwicklung kognitiver Defizite wurde bereits in einigen Publikationen beschrieben. Die vorliegende Studie von Nead und Kollegen untersuchte nun erstmals, ob eine Assoziation zwischen ADT und der nachfolgenden Entwicklung eines Morbus Alzheimers besteht.1

Hauptteil 

Die Studie wertete Datenmaterial von mehr als 5 Millionen Patienten aus den Medizinischen Zentren der Stanford University, Californien (1,8 Mio Patienten aus 1994 bis 2013) und des Mount Sinai Hospitals, New York (3,75 Mio Patienten aus 2000 bis 2013) aus. Insgesamt wurden hierzu mehr als 50 Millionen elektronische Patienten-Dokumente digital mit einem seit 2013 patentierten Verfahren zum „Text- bzw. Daten-Mining“ durchsucht.

Unter Berücksichtigung verschiedener Ein- und Ausschlusskriterien wurden nach Anwendung eines komplexen „text processing workflows“ letztlich 14.491 Prostatakarzinom Patienten ohne ADT und 2.397 PCa-Patienten mit ADT aus den elektronischen Unterlagen der beiden Zentren für die weitere Auswertung identifiziert.

Im Ergebnis wurden bei allen 16.888 Patienten 125 Alzheimer-Neuerkrankungen erhoben (7,4 Promille). Eine Aufteilung in die Gruppen ADT und keine-ADT erfolgte nicht. Dabei betrug die mediane Zeit bis zur Alzheimerdiagnose 4,0 Jahre bei einer medianen Nachbeobachtungszeit von 2,7 Jahren. Patienten mit mindestens 12-monatiger ADT Behandlung hatten dabei das höchste Risiko für die Entwicklung eines Morbus Alzheimers.

Auf einen statistischen Unterschied zwischen den Gruppen ADT und non-ADT wurde sowohl mit traditioneller multivariabler Cox-Regressions-Analyse, wie auch mit einer „Propensity score-matched regression“ Analyse getestet. Hierfür wurden statistische Adjustierungen bzgl. Alzheimer-relevanter Faktoren wie Patientenalter und kardiometabolische Erkrankung mit entsprechenden Variablen durchgeführt.

Beide Verfahren bestätigten den statistischen Zusammenhang zwischen ADT und Auftreten einer Alzheimer-Erkrankung in signifikanter Weise. Jedoch lässt sich aus der Kaplan-Meier Graphik – lediglich visuell – abschätzen, dass auch knapp 10 Jahre nach Beginn der ADT immer noch über 95 % der Patienten in beiden Gruppen frei von einer Alzheimer-Erkrankung sind.

Fazit 

Für den neuropathischen Effekt eines Androgenmangels sind in der Literatur verschiedene Erklärungsmuster beschrieben: u.a. unterstützen Androgene das neuronale Wachstum wie auch die Regeneration axonaler Strukturen.

Weiterhin modulieren Androgene wie das ADT Zielhormon Testosteron die ß-Amyloid Akkumulation, welche als Hauptkomponente der Amyloiden Plaques gelten. Eine ADT im Rahmen der Prostatakarzinomtherapie führt dabei nachweislich zu einer Anhebung des zirkulierenden ß-Amyloids im Blut. Ebenso sind niedrige Testosteronwerte mit kardiometabolischen Veränderungen wie Diabetes mellitus, koronare Herzkrankheit, Myokardinfarkt und periphere Verschlusskrankheit assoziiert, welche wiederum im Zusammenhang mit der Entwicklung einer Alzheimer Erkrankung stehen.

An der Publikation ist zu kritisieren, dass neben der fehlenden Aufteilung der insgesamt 125 Alzheimer-Diagnosen auf die beiden untersuchten Gruppen (+/- ADT), die Kaplan-Meier Kurven nur lupenhaft vergrößert den Bereich 90-100 % darstellen, um überhaupt einen visuellen Unterschied des Alzheimer-freien Überlebens zwischen beiden Gruppen zeigen zu können. Weiterhin sind in den Kaplan Meier Kurven unter der Zeitachse keine „number at risk“ Zahlen entsprechend der Patientenzahlen ohne Alzheimerdiagnose zu verschiedenen Zeitpunkten angegeben. Ebenso fehlen auch Angaben zu den Alzheimer-freien Überlebensraten z. B. zum Zeitpunkt 5, 10 und 15 Jahre.

Die Autoren selbst räumen gewisse Nachteile der Text-mining Methode ein, die sich aus Unschärfen des retrospektiv ausgewerteten und enorm umfangreichen Materials ergibt.

Dennoch erscheint an dieser Arbeit grundsätzlich interessant, dass mit den hier beschriebenen aufwendigen Verfahren statistisch relevante Zusammenhänge zwischen ADT und nachfolgender Alzheimererkrankung aus entsprechend großen retrospektiven Datenmengen zu Tage gefördert werden können. Die Arbeit zeigt somit exemplarisch, was der Umgang mit „Big Data“ in Bezug auf die medizinischen Wissenschaften zu leisten vermag.

Es bleibt allerdings kritisch zu hinterfragen, inwieweit sich die Ergebnisse der Arbeit bei einem marginalen Promille-Unterschied in der Alzheimer-Inzidenz für die Gruppen +/- ADT als klinisch relevant für die tägliche Praxis erweisen.

(1) Kevin T. Nead, Greg Gaskin, Cariad Chester, Samuel Swisher-McClure, Joel T. Dudley, Nicholas J. Leeper, and Nigam H. Shah. Androgen Deprivation Therapy and Future Alzheimer’s Disease Risk. Journal of Clinical Oncology. 2015; 34:566-571